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Vom Umgang mit Leid – Wenn Sprachgewalt zu schwarzer Magie wird

Sprache hat einen grundlegenden Einfluss darauf, wie wir die Welt wahrnehmen und wie wir über uns und die Welt denken. Die eigene Sprache gezielt einzusetzen, um sich aus unerwünschtem Erleben zu befreien, ist deswegen eine ziemlich wirkungsvolle Angelegenheit. Auf den ersten Blick.

Die Pippi-Langstrumpf-Methode

Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt. Wittgenstein hatte das schon vor Jahrhunderten erkannt. Psychologie und Hirnforschung haben erst in den vergangenen Jahrzehnten eine Sensibilität für die Wirkung von Sprache entwickelt. Die Ergebnisse in der Praxis finden sich zum  Beispiel in NLP, positiver Psychologie und systemischer Therapie wieder.

  • Fühlst du dich schlecht, sprichst du von einer Seite von dir, die sich schlecht fühlt und gewinnst inneren Abstand zu diesem Empfinden oder spricht gedanklich direkt in der dritten Person von dir (bewusste Dissoziation)
  • Du streichst müssen und sollen aus deinem Wortschatz und nutzt stattdessen dürfen und wollen. Schon fühlst du mehr Freiheit und Selbstbestimmung.
  • Das kleine Wörtchen “aber” willst du auch nicht mehr so oft verwenden, um dich nicht vorschnell einzuschränken.

Das sind, etwas vereinfacht dargestellt, einige der simplen und grundlegenden Manipulationstechniken, mit deren Hilfe wir unsere Welt verändern können. Diese Techniken funktionieren und trotzdem will ich sie nicht uneingeschränkt empfehlen. Sie sind kein Wundermittel, mit dem wir unsere Welt à la Pippi Langstrumpf einfach so malen, wie sie uns gefällt. Wir können das versuchen, aber der Preis ist hoch. Denn diese an sich hilfreichen Sprachtechniken können sehr leicht zu schwarzer Wortmagie werden, wenn sie unbedacht oder exzessiv eingesetzt werden. Was meine ich damit?

Machen wir eine unangenehme Erfahrung, dann wollen wir den Schmerz möglichst schnell loswerden. Am liebsten wollen wir ohnehin ein leidfreies Leben. Die Manipulation der Sprache scheint uns nun genau das zu bieten: Befreiung vom Leid durch bewussten Einsatz der eigenen Sprache. Wir behandeln Leiden und Schmerz als einen Fehler im System, eine Schwäche der Natur. Wir sind uns sicher, dass wir ohne Leid besser leben.

Spricht da nicht eine ziemlich beispiellose Arroganz?

Wie können wir so sicher sein, dass Leid nicht eine ganz Wesentliche Funktion hat und wir uns mehr schaden als nützen, wenn wir in dieses von uns noch nicht bis ins Letzte verstandene System Leben eingreifen?

Leiden zu managen, ist auch keine Lösung

Ich plädiere nicht dafür, sich im Leid zu suhlen und sich dem Schmerz einfach hinzugeben,  depressiv zu werden oder zu bleiben und in der Opferhaltung die eigene Existenz bis zum letzten Tag zu fristen. Aber wenn ich mir die allzeit positiven Spirituellen und Selbstoptimierer in ihren Vorträgen anhöre und ihre Postings auf Instagram durchlese, dann beschleicht mich das ungute Gefühl, dass wir eine Tiefendimension verlieren, wenn wir den Schmerz aus unserer Erlebenswelt komplett streichen.

Ehe jetzt der Einwand kommt, in der spirituellen Szene habe das Leid doch längst seinen Platz und würde nicht mehr verdrängt: Ich halte nichts davon, den Schmerz der gleichen Selbstoptimierungslogik unterzuordnen, mit der mehr und mehr Menschen alle Bereiche ihres Lebens organisieren. Nimm dir drei Tage zum Jammern und dann suche nach einer neuen Sichtweise. Gönn dir ein düsteres Wochenende und dann schaue in die Zukunft. So oder so ähnlich klingt dieser Ansatz. Mir graut es bei dem Gedanken, dass wir in Zukunft persönliches und kollektives Leid genauso managen, wie einen aufstrebendes Unternehmen.

Warum Schmerz seine Berechtigung hat

Die Natur hat sich etwas dabei gedacht, Schmerz und Leid in ihrer ganzen Unberechenbarkeit ins Leben zu integrieren. Wir müssen uns nur anschauen, was Menschen heute und in den vergangenen Jahrhunderten über leidvolle Erfahrungen berichten: Rückblickend werden sie oft zu einem Geschenk. Ein paar Beispiele:

  • Sie erinnern an das Wunder des  Lebens und lehren Demut.
  • Sie führen zu einer intensiveren Wahrnehmung und einer tiefen Wertschätzung der menschlichen Existenz.
  • Sie zwingen zur Entschleunigung und eröffnen neue Dimensionen der Reflexion.
  • Sie dienen als moralischer Kompass.
  • Sie lehren Empathie für das Leid anderer.  
  • Sie zwingen, neue Wege zu finden und neue Lösungen zu entwickeln.
  • Sie sind Katalysatoren für Gemeinschaft, die dann umso wirkungsvolle für ein gemeinsames Ziel eintritt.
  • Sie motivieren als memento mori für die eigenen Träume aktiv zu werden.
  • Sie trainieren Durchhaltevermögen und Willensstärke, die später besondere Erfolge und Leistungen überhaupt erst ermöglichen.

Leid und Schmerz sind integrale Bestandteile der menschlichen Existenz. Sie sind unangenehme, aber wertvolle Erfahrungen.

Vielleicht schaffen wir das Leid als unberechenbare Variable wirklich ab. Wir Menschen orientieren uns mehr und mehr an technologischen Standards, halten Effizienz und Leistungsfähigkeit für das Maß aller Dinge. Ich behaupte, wir würden damit unserer Menschlichkeit schaden.

Sowohl als auch statt Entweder oder

Der Umgang mit unangenehmen Gedanken und Gefühlen ist zum Glück bis auf Weiteres eine individuelle Entscheidung. Wenn wir uns diese Entscheidung bewusst machen und nicht reflexhaft zu der einen oder anderen Strategie zu greifen, ist viel gewonnen. Warum wählen wir nicht einen dritten Weg, der zwischen dem Instrumentalisieren von Leid und dem Manipulieren unserer Wirklichkeit auf der einen und der resignierten Opferhaltung auf der anderen Seite mittig entlang führt?  

Wenn du das nächste Mal im Opfermodus zu versacken drohst, erinnere dich an die Kraft der Sprache und die Möglichkeiten, dein Denken und Fühlen zu beeinflussen.

Wenn du das nächste Mal reflexhaft dem Leid entfliehen willst, erinnere dich an die Lektionen, die du verpasst, wenn du dich der Erfahrung in ihrem natürlichen Fluss verschließt.

Es ist gut, Techniken zu kennen, um das eigene Erleben zu beeinflussen. Noch besser ist es, ein Gespür dafür zu entwickeln, wann es Zeit ist, dem Leben die Führung zu überlassen.

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Franziska.love: Das Leben mit allen Seiten annehmen, darum geht’s auch in Franziskas Soul Sunday Videos. Sehr gute Inhalte. Lohnt sich.

TED: How language shapes the way we think: Der Vortrag wirft ein Schlaglicht darauf, wie tiefgreifend unsere Sprache unser Denken wirklich beeinflusst.

2 comments

  1. Mia says:

    Danke für die guten Tipps zur systemischen Therapie. Eine Bekannte hatte wegen aktuellen Problemen einen Therapeuten besucht. Seit der systemischen Therapie geht es ihr zunehmend besser.

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