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Journal-Trend - Die Nachteile

Die dunkle Seite des Journal-Trends

Fast hätte es etwas werden können mit uns. Dem Schreiben für mehr Sinn und Erfüllung in unserem Leben. Doch dann haben wir das Journal erfunden. Eine großartige Idee, die  aus dem Ruder lief. Zunächst haben wir es gar nicht bemerkt…

Wir sind besessen davon, Antworten zu finden. Antworten auf unsere Probleme, auf die wichtigen Fragen in unserem Leben. Völlig verständlich. Wer will schon in einem Meer aus Fragen leben?! 

Fragen bringen Unsicherheit. Orientierungslosigkeit und ja, Angst.

Antworten dagegen bedeuten Klarheit. Sicherheit. Selbstvertrauen.

Mehr noch: Wenn wir ehrlich sind, glauben wir, dass der Weg zum Glück mit Antworten gepflastert ist. Wir meinen, je mehr Antworten, desto mehr Lebensglück.

Da wir alle unser Ziel lieber gestern als heute erreichen, haben wir versucht ein System zu erschaffen, mit dem wir auf möglichst effiziente Weise möglichst viele, gute, hilfreiche, ja glücksbringende Antworten finden. Der Trend des modernen Journalings war geboren.

Im Windschatten der Achtsamkeitswelle wagten sich erst ein paar Pioniere wie Hallo Klarheit und Ein guter Plan daran, das Tagebuchschreiben mit dem Terminkalender zu kreuzen und eine moderne Form des Schreibens für persönliches Wachstum zu entwickeln. Gekennzeichnet durch eine klare Struktur und vor allem: konkreten Leitfragen. Und hier fangen die Probleme an.

Meine Fragen sind nicht deine Fragen

Denn mag der Weg zum persönlichen Glück auch mit Antworten gepflastert sein, er ist sicher nicht durch Effizienz gekennzeichnet.

Es ist unmittelbar einleuchtend, dass meine Antworten zum Glück nicht deine sind. Und doch glauben wir, dass Fragen Universalschlüssel sind. Eine Frage führt mich zu meinem Glück und dich zu deinem. Das kann funktionieren – in den richtigen Rahmenbedingungen. Doch meine Erfahrung ist, dass Fragen Universalschlüssel mit begrenzter Funktion sind. Sonst wäre das Leben vielleicht auch zu langweilig. Es gibt eine ganze Reihe wirkungsvoller Fragetechniken. Doch die Frage, die für mich jetzt gerade am meisten zum Besseren verändert, ist nicht die, die für dich gerade am besten passt.

Die Journal-Fragen wissen nicht, welche Frage für mich jetzt gerade ein großer Schritt vorwärts bedeuten würde. Journal-Fragen stehen fest. Zementiert. Sie bilden ein Korsett, das Halt gibt, aber eben auch einschränkt. Nicht falsch verstehen, ich liebe gute Journals und nutze sie selbst regelmäßig – aber eben nicht ausschließlich. Und ich bemühe mich, nicht nur vorgegebene Fragen zu beantworten, sondern mir auch eigene Fragen zu stellen. 

Die Magie eigener Fragen

Journals können zu einem Tunnelblick führen. Wie wäre es, wenn du das Spiel einmal umkehrst und dich ganz bewusst auf die Suche nach deinen eigenen Fragen begibst? Es lohnt sich, die Augen offen zu halten. Mittlerweile begegnen sie mir wirklich überall. 

  • In der U-Bahn, während ich dem Lied einer Obdachlosen lausche und in die Gesichter der anderen Fahrgäste blicke.
  • Im Büro, als ich fünf Minuten lang ansetze, eine E-Mail an meine Kollegin zu schreiben.
  • Während ich aus dem Fenster schaue
  • oder noch den Paketausträger auf der Treppe stürzen sehe, als er schon längst wieder verschwunden ist und ich plötzlich ein Päckchen in der Hand halte.

Das Journal animiert mich täglich mit manchmal unerträglicher Monotonie wieder und wieder zur Innenschau. An manchen Tagen fühle ich mich unter Druck gesetzt, auf eine möglichst erleuchtete, dankbare Antwort zu kommen, an anderen ertappe ich mich dabei, wie meine Hand den Stift führt, aber mein Herz abgeschaltet hat. 

Fragen, die mir im Alltag begegnen, begleiten mich oft länger, ganz ohne Erleuchtungsdruck, ich meditiere mit ihnen, trage sie eine Weile neugierig mit mir durch den Alltag. Mit einigen treffe ich mich sogar regelmäßig zum Stammtisch und wieder andere sind die unerwarteten Urlaubsflirts, die intensiv zu einmaligen Erlebnissen führen.

Das Leben lädt zum Fragen ein. Doch nur die richtigen Fragen führen zu Antworten, die unser Leben bereichern. Und was richtig ist, das ist für jeden verschieden.

Monotone Fragen-Kost

Der Journal-Trend hat recht: Fragen sind großartige Werkzeuge und es lohnt sich, sich täglich oder zumindest regelmäßig gute Fragen zu stellen, die über das “Wie erkläre ich es meinem Chef” und “Was koche ich heute Abend” hinausgehen. Gute Gewohnheiten können unsere Lebensqualität grundlegend verändern und eine persönliche Journaling-Gewohnheit ist ganz sicher bereichernd. 

Aber genauso wie es ungesund ist, sich ausschließlich von ein und demselben Gericht zu ernähren, ist es nicht ideal, tagein tagaus mit den immer gleichen Fragen zu arbeiten. Sie verlieren ihren Geschmack. Sie lassen unser Hirn einschlafen und unser Herz abstumpfen. Im schlimmsten Fall schränken sie unser Blickfeld so sehr ein, sodass wir verlernen, uns eigene Fragen zu stellen und trotz intensiver Selbstreflexion nie zu unseren eigentlichen Themen vordringen, weil zu ihnen über das angebotene Fragenbuffet nicht vordringen. 

Unser Speiseplan ist abwechslungsreich und genauso profitieren wir, wenn wir eine bunte Fragenkost einnehmen und dabei auf unseren inneren Kompass hören.

Kein Journal und sei es noch so gut, kann das freie Schreiben ersetzen.

Wo du deine Antworten findest

Tatsächlich tragen wir meist die Fragen, die das Leben von uns beantwortet haben will, bereits in uns. Wenn wir ganz still werden und die Leere aushalten, in der wir weder Antworten noch Fragen sehen, dann tauchen sie plötzlich auf. Fragen. Nicht irgendwelche, sondern unsere Fragen.

Und wenn wir uns ihnen vorsichtig und neugierig nähern, erkennen wir nach einer Weile, dass sie wunderschön sind. Viel schöner als die 0815-Fragen, mit denen wir uns bisher abgelenkt haben. Der Raum wird mit einem Mal heller und wir vergessen die Zeit, während wir sie uns mit ihnen vertraut machen. 

Ganz unvermittelt blicken wir uns um. Und da sind sie: Antworten. Wann auch immer sie sich unter die Fragen gemischt haben, jetzt erkennen wir sie ganz deutlich. Ein faszinierendes Schauspiel. In allen Farben. Manche Antworten sind entfernt, manche ganz nah. Einige weichen vor uns zurück, andere stellen sich uns in den Weg. Viele kommen in völlig unerwarteter Gestalt. Manche bekommen wir zu fassen, andere verwandeln sich bei der ersten Berührung und werden zu neuen Fragen. Ja, die Fragen  bleiben in der Überzahl. Aber es spielt keine Rolle mehr.

Wir stellen fest, dass wir trotzdem glücklich sind. Trotz aller Fragen. Und da erkennen wir: Glück finden wir nicht in Wissen, Kontrolle und Ankommen, sondern in Erfahrung, Vertrauen und Hingabe. 

Es ging nie um die Antworten.

Immer um die Fragen.

13 comments

  1. Gerald says:

    Toller Artikel der den Nagel auf den Kopf trifft und meine eigene Erfahrung super umschreibt. So klar wie von Dir zusammengefasst hatte ich es noch nie gesehen. Aber ich kenne das Gefühl, dass ich mich nur mit dem Kopf aber nicht dem Herz meinem Journal widme. Das regelmäßige Führen des Journals ist zu einer Pflicht geworden und drückt mich manchmal herunter. Zugegeben, nafangs waren die vorgegebenen Fragen sehr hilfreich um aus dem eigenen Gedankekreislauf auszubrechen. Aber irgendwann at es mcih eingeengt, täglich 5 Dinge für die ich dankbar bin etc. hinzuschreiben, wenn ich nicht mit dem Herzen dabei bin.
    Dein Artikel hat mich inspiriert, endlich mein eigenes Journal auf leerem weißen Papier und ohne jegliche äußere Vorgaben zu führen! Danke!

    • Paul says:

      Danke, Gerald! Ich hoffe, du hast schon ein paar Seiten gefüllt? Viel Freude dabei und es lohnt sich wirklich, den inneren Schweinehund, der immer irgendwann um die Ecke kommt, an die Leine zu nehmen… 🙂

  2. Margarete says:

    Lieber Paul,
    du beschreibst das sehr ansprechend.
    Ich muss gestehen, dass ich mich nicht so ganz an diese Journal-Vorgaben halte.
    Ich bin es schon seit Jahren gewohnt mir meine eigenen Fragen zu stellen, denn mit den vorgegebenen Fragen tue ich mich schwer weil sie mir oft nicht entsprechen. Seit 23 Jahren schreibe ich mir bei Bedarf die Seele frei (dies nur am Rande bemerkt).
    Wichtige Fragen die mir auf der Seele brennen kann ich jedoch auch mit hinaus in die Natur nehmen, denn dort erhalte ich auf meditative Weise meine Antworten.
    Es ist auch möglich sich die Antworten von anderen geben zu lassen ohne diese zu fragen.

  3. Manuela says:

    Endlich finde ich das in Worte gefasst, was ich schon lange fühle. Ich habe bereits mehrfach solche Kalender wie Ein guter Plan gekauft uä, motiviert begonnen und nach wenigen Tagen wieder weggelegt.
    Im Rahmen meines Tagebuchs oder Journaling arbeite ich regelmäßig mit Fragen und Fragetechniken. allerdings in Bezug auf Themen, die mich gerade berühren oder da sind. Selbst große Brocken kann ich mittels Fragetechniken in kleine Häppchen zerlegen und ihnen so Schritt für Schritt nahe kommen.

    • Paul says:

      Manuela, danke fürs Teilen! Ja, die großen Brocken brauchen einfach etwas ausgefeiltere Werkzeuge als solche Journals. Klingt, als wärst du eine erfahrene Lebensforscherin. Mag ich. 🙂

  4. Hallo Paul, ein toller Artikel!
    Gestern habe ich mir viele vorgefertige Tagebücher von paperchase angesehen. Qualität war gut, die Typ hat mir auch gefallen, das Design: recht nett.
    Aber will ich ein ganzes Jahr immer und immer dieselben Fragen zu einem bestimmten Thema beantworten? Nein, das ist mir dann doch zu öde.
    Die Fragen hören nie auf, die Antworten meist verschwommen. Und das ist okay so, wir müssen ja keinen Wettbewerb gewinnen. Und meistens kommen die ganz einfach hervor, mitten im Alltag, ohne großes Zutun, einfach so.

    • Paul says:

      Ahoi, danke fürs Gehirngoldstaub da lassen ;). Paperchase kannte ich noch gar nicht. Gucke ich mir mal an. Vielleicht taugt es was in meinem Schreibmix…

  5. Katharina says:

    Richtig toller Artikel und genau das, was ich gerade gebraucht habe. ☺️
    Ich glaube die vorgegebenen Fragen können mal ganz okay sein und ein Leitfaden für den Anfang. Als Sicherheit.
    Hab gleich losgeschrieben, als ich bei dir gelesen habe. 😂
    Danke dir!

    • Paul says:

      Ah, das freut mich sehr! Ich hab ja immer etwas Sorge, dass ich mir keine Freunde mache, wenn ich die glückselige Stimmung in der Selfhelp-Blase mit meinen kritischen Anmerkungen störe – aber was gesagt werden will, muss gesagt werden. 😉

  6. Nola says:

    Hallo Paul, schöner Artikel. Erinnert mich an Rainer Maria Rilke:

    “Man muss Geduld haben gegen das Ungelöste im Herzen,
    und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
    wie verschlossene Stuben, und wie Bücher,
    die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.

    Es handelt sich darum, alles zu leben.
    Wenn man die Fragen lebt,
    lebt man vielleicht allmählich,
    ohne es zu merken,
    eines fremden Tages
    in die Antwort hinein.”

    Vielen Dank für Deine Artikel und Ideen und Anregungen.

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