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Soul Journaling

Dankbarkeitsjournale sind nicht die Lösung!

In der Persönlichkeitsentwicklungszene erleben sie gerade einen Hype: Dankbarkeitsjournale werden als Abkürzung ins Glück gehandelt. Ich selbst habe dafür geworben, ein solches Journal anzulegen. Mittlerweile denke ich: Sie bergen Gefahren und bevorzuge einen anderen Journaling-Ansatz.  

Ich nehme mir morgens und abends 5 Minuten Zeit und schreibe auf, wofür ich dankbar bin und schneller, als ich es für möglich halte, steigt meinen Stimmung, ich fühle mich fitter und optimistischer. Klingt zu schön, um wahr zu sein? Nein.

Ich muss der Gewohnheit zwar ein paar Tage oder Wochen geben, aber dann wirkt sie. Wissenschaftliche Studien bestätigen, dass ein Dankbarkeitsjournal tatsächliche solche Veränderungen unseres Erlebens hervorrufen kann. Es scheint, als habe man ein Wundermittel gegen Stress, Depression und Selbstzweifel gefunden. Was ist also mein Problem? Warum kann ich mich nicht einfach freuen und ausnahmsweise hinnehmen, dass etwas einfach sein darf?

Die Gefahr von Dankbarkeitsjournalen

Dankbarkeitsjournale haben ihre Berechtigung. Ich empfehle sie selbst. Aber ich habe festgestellt, dass dieser Hype um Dankbarkeitstagebücher auch seine Schattenseiten hat. Teilweise scheint es, als dürften negative Emotionen wie Traurigkeit, Enttäuschung, Schmerz und Angst gar nicht mehr sein. Fokussier dich auf das, was gut läuft in deinem Leben, dann wird es mehr. Durch den Blick auf Probleme hat noch niemand Lösungen gefunden. Wer sich Coaching und Psychologie beschäftigt, kennt solche lösungsorientierten Sätze. Doch ich glaube, dass wir jede Emotion aus gutem Grund empfinden.

Die Natur ist intelligent. Hätten diese dunklen Emotionen keinen Sinn, wären sie längst im Laufe der Evolution verschwunden. Ich bin überzeugt, dass auch und gerade diese dunklen Momente Schätze für uns bereithalten – die wir allerdings niemals heben, wenn wir uns krampfhaft im Zwangsoptimismus bzw. Selbstoptimierungsmodus befinden und mit Journaling ausschließlich das Ausfüllen von Dankbarkeitsjournalen verbinden.

Wir überspringen einen wichtigen Schritt

Job verloren? Direkt voll motiviert auf zum Bewerbungen schreiben! Dein Partner ist unheilbar erkrankt? Feiert die Zeit, die euch noch bleibt. Diese überspitzten Beispiele verursachen dir vielleicht und hoffentlich ein komisches Gefühl. Denn die natürliche menschliche Reaktion auf solche schmerzhaften Erfahrungen ist hier ausgelassen. Motivation und Freude dürfen folgen, aber es ist ganz normal, dass wir zunächst Trauer und Verzweiflung angesichts solcher schwieriger Lebensveränderungen empfinden. Zwischen Verletzung und Heilung liegt Schmerz und er verschwindet nicht, indem wir nicht über ihn reden oder schreiben.

“Was ist, darf sein und was sein darf, verändert sich.“ Das Zitat von Werner Bock ist mir in der systemischen Therapie begegnet und ich mag diese entspannte Haltung dem Leben gegenüber. Tatsächlich habe ich bereits mehrfach erleben dürfen, dass dieser Satz nicht bloß schön klingt, sondern auch eine tiefes Lebensprinzip zum Ausdruck bringt. Ja, es funktioniert. Vorausgesetzt wir versuchen nicht direkt schwierige Gefühle zu leugnen, zu verdrängen und mit Dankbarkeit in die Flucht zu schlagen.

Wir brauchen unseren Schmerz nicht fürchten

Die Trauer kann überwältigend sein, aber sie wird dich nicht umbringen. Die Angst mag dir das Gefühl geben, als würdest du den Verstand verlieren, die Verzweiflung kann dir deine komplette Kraft rauben, aber jede Emotion geht vorüber. Wenn wir unsere Abwehr gegen die dunklen Momente unseres Lebens aufgeben, dann kann ein natürlicher Heilungsprozess einsetzen. Ich stelle mir solche Phasen als Regenschauer oder auch mal als Unwetter mit höchster Warnstufe vor. Es mag ja den Anschein haben, als würde die Welt untergehen, wenn wir mittendrin sind. Wenn der Himmel aufklart, sehen wir noch die Verwüstung, aber mit Arbeit und Ausdauer ist bald wieder eine (neue) Ordnung hergestellt.

Es sind diese dunklen Momente, die uns dazu zwingen, das Tempo zu drosseln und innezuhalten. Sie geben uns Anlass, das Hamsterrad kurz anzuhalten, um uns, unser Denken und unser Verhalten und manchmal auch unser ganzes Leben zu hinterfragen. Wenn wir unsere Außenwelt leise drehen und mal alle elektronischen Geräte auf lautlos stellen, die Termine absagen, die Serie auslassen und die Tür hinter uns zu machen, dann erst hören wir unsere inneren Dialoge.

Schreiben über die dunklen Momente verändert

Wenn wir die Augen schließen, sehen wir einen Hollywoodstreifen in unserem Kopf ablaufen. Wenn es uns nicht gut geht, dann ist der Film vielleicht eher zum davonlaufen, aber es lohnt sich, wenn du ihn dir mal eine Weile ansiehst und – meine Einladung – danach  beginnst, darüber zu schreiben. Ja, nimm dir das nächste Mal, wenn dich das dumpfe Gefühl packt, dass etwas nicht ganz rund läuft, 10 Minuten Zeit, um erst innezuhalten und dann zu schreiben.

Schreiben kann in diesen Momenten das Kopfchaos, das Gefühlsdunkel, die Fantasiewelten festhalten und greifbar machen, wenn du aus der Emotion heraus schreibst, ohne viel nachzudenken. Dieses Soul Journaling macht dein Unterbewusstes auf dem Papier sichtbar. Es mag hässlich, selbstmitleidig, hoffnungslos erscheinen, womit dein Stift die Zeilen füllt. Das ist ok. Mag sein, dass du sofort ein Gefühl der Erleichterung spürst, nachdem du geschrieben hast, mag sein, dass du überhaupt nicht richtig ausdrücken konntest, was du fühlst. Keine Sorge. Das Schreiben verändert sich mit der Zeit. Auch Soul Journaling braucht eine Routine und wirkt am besten, wenn es zu einer dauerhaften Schreibbeziehung (Journaling Gewohnheit) wird.

Soul Journaling ist ein stiller Dialog

Wenn du mit dem Soul Journaling beginnst, stell es dir wie ein erstes Date vor. Vielleicht ist es eine stürmische erste Begegnung und es geht sofort zur Sache, vielleicht ist es auch ein zaghaftes Vortasten und Kennenlernen. Vielleicht bist du auch überrascht von der Wucht oder tiefe der Emotionen, die sich zeigen, wenn keine Erwartungen und Verpflichtungen sie zurückdrängen. Wenn du schreibend Kontakt zu deiner inneren Welt aufnimmst, beginnt eine Beziehung, die einem eigenen Tempo folgt.

Früher oder später aber wirst du die faszinierende Fähigkeit des Schreibens erfahren, dir ein Gegenüber zu sein, das so viel weiser, mitfühlender und konstruktiver ist, als du es selbst sein könntest. Und doch kommen diese Gedanken aus dir. Das ist der Moment, indem aus dem Schreiben ein stiller Dialog wird. Deine zu Papier gebrachten Fragen Antworten erhalten.

Türöffner zu innerer Weisheit

Manche sagen, bei diesem Soul Journaling nehmen wir Verbindung zu unserem höheren Selbst auf, andere nennen es Gott, ich spreche gerne von innerer Weisheit. Welche Begriffe du dafür findest, ist ganz egal. Wichtig ist nur, dass Menschen immer und immer wieder die klärende, heilende, unterstützende Wirkung des Schreibens erfahren – und zwar, indem sie einfach und vor allem unzensiert über ihre tiefsten Gedanken und Gefühle schreiben, über die Ereignisse und Erfahrungen, die sie gerade beschäftigen. Ungeschönt, so wie sie sie empfinden und bewerten.

Einzige Voraussetzung, um in diesen inneren  Dialog einzutreten: Du bringst die Bereitschaft mit, ein neues Erleben, eine bessere Zukunft für dich für möglich zu halten und den ehrlichen Wunsch, dass Heilung, eine neue Perspektive, eine positive Wendung eintritt. Nimm dir vor dem Schreiben bewusst einen Moment Zeit, um deine innere Weisheit, Gott oder wie du auch immer deine antwortende Schreibstimme nennen magst, einzuladen. Dieses Ritual, von dem ich durch Janet Connor erfahren habe, schien mir erst etwas befremdlich, hat aber die Qualität meines Soul Journaling extrem bereichert.

Voraussetzung für echte Heilung und persönliches Wachstum

Anders als beim Dankbarkeitsjournal geht es beim Soul Journaling nicht darum, ein, zwei Fragen in Stichpunkten zu beantworten, um auf möglichst effiziente Weise die eigene Stimmung zu heben. Eine dreckige Wunde reinigen wir, bevor wir ein Pflaster darauf kleben. Soul Journaling kann als innerer Reinigungsprozess verstanden werden.

Wenn wir uns auch unseren schmerzhaften Emotionen und schwierigen Erfahrungen widmen, können wir sie transformieren. Reinigung ist die Voraussetzung, dass unsere kleinen und größeren Wunden nicht immer wieder aufbrechen, sich entzünden und uns schwächen, sondern echte Heilung erfahren.

 

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Weiterführende Literatur

 

6 comments

  1. Doro Wengenroth says:

    Hallo lieber Paul, ich bin dir sehr dankbar für diese “Kurskorrektur”, du sprichst mir aus der Seele, denn “Alles darf sein”. Ich bin ein durchaus dankbarer Mensch, aber es leben alle Emotionen in mir, vielleicht ist das das wirkliche Glück! Herzliche Grüße und Dank für diesen wertvollen Sonntagsbrief! Doro Wengenroth

  2. Luise says:

    Meine Güte, ist das eine Befreiung,dass es endlich mal jemand ausspricht: Alle Gefühle haben ihre Berechtigung und sind erlaubt! Ich kann oft erst “weitermachen” im Alltag, wenn ich mit mir (hier geht ja auch schreiben) oder jemand anderem über Negatives geredet habe. Dann geht es mir oft schon besser und ich bin offen für Neues und strenge mich dann auch an, es mir gut gehen zu lassen. In der Meditation habe ich gelernt, dass Negatives o.k. ist. Man muss sich mit Problemen auseinandersetzen. Wenn man dann jedoch merkt, dass man immer dasselbe denkt und grübelt, ohne, dass es einen weiter bringt, dann wird es Zeit, diese grübelnden Gedanken wegzuschieben und sich auf Schönes zu konzentrieren.

    • Paul says:

      🙂 Freut mich, dass du es ähnlich empfindest. Und ja, den Unterschied zu erkennen, ab wann man in negative Gedankenschleifen abgleitet, halte ich auch für wichtig. Die Ausrichtung aufs Positive, ohne das Negative zu verdrängen. Danke fürs die Ergänzung!

  3. Beatrix says:

    Hallo!
    Gerade habe ich noch einen Blogartikel in Meine Schreibbar über Dankbarkeit geschrieben, weil es gerade wieder ein großes Thema in der La Vie ist. Eine Kollegin von mir hat auch ein Dankbarkeits-Tagebuch entwickelt und es läuft sehr gut. Aber du hast natürlich Recht, alles darf und soll sein. Die Blickrichtung zu ändern, bestreitest du ja auch nicht. Ich würde sagen, es geht dahin, zu erkennen, das wir genau das haben, was wir haben sollen/wollen. Dieses Annehmen. Und ich hatte irgendwann genug vom Dankbarkeits-Tagebuch führen, weil ich dachte: Mädchen, sei für alles dankbar. Dahin führt der Weg der Dankbarkeit.

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